Vertrauen in andere – unsere politische Wahl
Der Juni in Europa war nicht nur wegen der Fußballweltmeisterschaft bemerkenswert, sondern auch wegen der Wahlen zum Europäischen Parlament. Ende Mai starteten wir einen Pilotbot auf Telegram, der die Möglichkeit bot, das Ausmaß der Zustimmung zu den Thesen der wichtigsten deutschen Parteienprogramme zu bewerten. Wir möchten die Ergebnisse und eine kleine Analyse mit Ihnen teilen.

Zeitraum der Umfrage: 30. Mai bis 6. Juni
Anzahl der Teilnehmer: 536 Personen
Alter: 18 bis 81 Jahre (55 % Frauen, 45 % Männer)
Sprachen: Englisch und Russisch
Thesen aus den Programmen der Parteien: CDU, FDP, AfD, BSW, SPD, Die Linke, Grüne
Die meisten stimmten “vollständig zu” oder “eher zu” bei folgenden Fragen:
  • Die EU sollte die Kernenergie weiterhin als nachhaltige Energiequelle betrachten – 68,3 % (26,6 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Die Ukraine sollte Mitglied der EU werden – 51,7 % (34,1 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Die EU sollte den Mitgliedstaaten empfehlen, die Registrierung einer geschlechtlichen Identität im Pass zu erlauben, die weder "weiblich" noch "männlich" ist – 56,4 % (27,3 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Mehr außenpolitische Entscheidungen in der EU sollten mit Mehrheitsbeschluss statt einstimmig getroffen werden – 67 % (25,7 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Politische Parteien sollten die Freiheit haben, das Geschlechterverhältnis ihrer Wahllisten zum Europäischen Parlament selbst zu bestimmen – 58,6 % (35,3 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Die EU sollte mehr Waffen für die Ukraine finanzieren – 66,1 % (18,3 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
  • Die Zulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren in der EU sollte nach 2035 fortgesetzt werden – 52,2 % (34,5 % “vollständig dagegen” oder “eher dagegen”)
Die meisten stimmten “vollständig dagegen” oder “eher dagegen” bei folgenden Fragen:
  • Betreiber sozialer Netzwerke sollten die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wie sie mit Desinformation auf ihren Plattformen umgehen – 52,6 % (37 % “vollständig dafür” oder “eher dafür”)
  • Die Erweiterung der EU sollte in allen Mitgliedstaaten durch Referenden bestätigt werden – 55,7 % (34,9 % “vollständig dafür” oder “eher dafür”)
  • Der ständige Grenzkontrollensoll zwischen den Mitgliedstaaten der EU wiederhergestellt werden – 94,8 % (8,5 % “vollständig dafür” oder “eher dafür”)
  • Die Sanktionen der EU gegen Russland sollten aufgehoben werden – 75,5 % (12,2 % “vollständig dafür” oder “eher dafür”)
Das größte Einvernehmen gab es in Bezug auf die Grenzen der Europäischen Union, die die Menschen nicht wiederherstellen möchten, und die EU-Sanktionen gegen Russland, die die Menschen beibehalten möchten. Bei den anderen Fragen gab es größere Meinungsunterschiede.
Neben den Fragen zur Zustimmung zu den Thesen der Parteienprogramme beantworteten die Befragten auch einige Fragen zu sich selbst. Die Ergebnisse unserer Studie stimmen im Großen und Ganzen mit den bekannten Daten zu politischen Einstellungen und Präferenzen überein:
  • Mit dem Alter steigt der Grad des Konservatismus.
  • Junge Menschen zeigen größere politische Aktivität und Interesse, haben häufiger liberale oder linke politische Ansichten.
  • Männer sind konservativer und halten häufiger rechte politische Positionen als Frauen.
Diese Tendenzen spiegeln sich in den politischen Präferenzen der Wähler wider. Männer stimmen den Thesen der CDU, FDP und AfD häufiger zu, während Frauen eher die SPD und Die Linke unterstützen. Ein großes Interesse an Politik ist mit der Unterstützung der Thesen von Grüne, CDU, FDP und SPD verbunden, während ein geringes Interesse mit der Unterstützung von AfD und BSW einhergeht. Liberale und linke Ansichten sind mit der Unterstützung von Grüne, FDP und SPD verbunden, während konservative und rechte Ansichten mit der Unterstützung von AfD und BSW einhergehen.
Was können wir dieser bereits bekannten Darstellung hinzufügen?
In der “trockenen” Darstellung statistischer Ergebnisse kann leicht der menschliche Faktor verloren gehen, der zweifellos die politischen Präferenzen der Menschen bestimmt. Als solchen Faktor haben wir das Vertrauen in andere Menschen betrachtet (das von völliger Misstrauen bis zu völliger Akzeptanz anderer Menschen als sichere und wohlwollende Partner reichen kann). Ein Rückgang des Vertrauens in andere Menschen kann zu einer Verstärkung der sozialen Zersplitterung und zur Wahrnehmung der Welt als gefährlichen Ort führen. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass der Glaube an eine gefährliche Welt konsequent zur Unterstützung des Autoritarismus als Mittel zum Schutz vor Gefahren und zur Erhaltung von Werten und Traditionen führt.

Die Ergebnisse eines mathematischen Modells, das den Einfluss und das Zusammenspiel verschiedener Variablen (Vertrauensniveau gegenüber anderen Menschen, liberale-konservative, linke-rechte politische Präferenzen, Alter und Geschlecht der Befragten sowie ihr Interesse an Politik) berücksichtigte, zeigten, dass geringes Vertrauen in andere Menschen die Unterstützung rechter und konservativer politischer Ansichten erheblich verstärkt, was wiederum die Unterstützung von Parteien wie AfD und BSW verstärkt. Dieser Effekt tritt jedoch nur bei Männern auf, die sich möglicherweise stärker durch “Bedrohungen” seitens der Gesellschaft fühlen, insbesondere im Zusammenhang mit verschiedenen liberalen Initiativen, die beispielsweise auf den Schutz der Rechte von Frauen abzielen. Ein hohes Maß an Vertrauen ist hingegen mit einer Verstärkung linker Einstellungen und der Unterstützung von FDP und SPD sowohl bei Männern als auch bei Frauen verbunden.

Was sagen uns diese Ergebnisse? Es scheint, dass die Stärkung rechter und konservativer Parteien mit einem Rückgang des Vertrauens in andere Menschen zusammenhängt. Viele Menschen brauchen jetzt Unterstützung und das Wiederherstellen des Glaubens an die Menschheit, um das Bestreben nach “Schutz” vor einer gefährlichen Welt durch die Bereitschaft zu ersetzen, der Gesellschaft, neuen Ideen und Initiativen offen gegenüberzustehen. Die Aufgabe moderner Politiker besteht darin, zu verstehen, wann das Vertrauen in andere verloren ging und was wir tun können, um es wiederherzustellen. Diese Beobachtungen eröffnen neue Horizonte für das Verständnis, wie soziale und politische Faktoren miteinander interagieren und unser Leben und die Gesellschaft insgesamt beeinflussen.
Danke für die Unterstützung bei der Durchführung des Projekts:
Erstellung des Bots — Team Friday
Unterstützung bei der Befragung der Teilnehmer — Alex Jusupow
Datenanalyse — Elena Agadullina

In naher Zukunft werden wir Treffen organisieren, um Fragen zu diskutieren, bei denen die Meinungen unserer Teilnehmer am meisten auseinandergehen. Wenn Sie interessiert sind, teilzunehmen, füllen Sie bitte das Teilnahmeformular aus (wenn Sie die Fragen des Bots beantwortet und angegeben haben, dass Sie an den Diskussionen teilnehmen möchten, müssen Sie das Formular nicht ausfüllen).

Wir hoffen auch, unseren Pilotbot zu einem vollwertigen Fragebogen weiterzuentwickeln und eine umfassendere Studie und Datenanalyse durchzuführen. Wenn Sie am Projekt interessiert sind, schreiben Sie uns: lab.wir.de@gmail.com
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